Stimme erheben für eine attraktive Pflege
Attraktiv, sexy, innovativ und stimmgewaltig. Das war die 46. Fortbildung für Pflegende, die am 15. November 2024 wieder in Kassel und im Live-Stream stattgefunden hat.
Die B. Braun-Stiftung erreichte mit ihrer diesjährigen Fortbildung für Pflegende mehr als 1000 Teilnehmer*innen und konnte mit einem abwechslungsreichen Programm und neuen Impulsen aufwarten.
Generalistik - Mythen und Fakten
Das Gesetz der Generalistik ist seit 2020 in Kraft, jedoch gibt es von verschiedenen Interessenvertretungen immer noch „Basisgegenwind“, wie Carsten Drude es in seinem Vortrag nannte, bis hin zu Forderungen nach Rückabwicklung der Pflegeausbildung. Ein Punkt, der die politische Debatte und die Kritik an der Generalistik zurzeit befeuere sei, dass es anstatt eines einheitlichen Ausbildungswegs mit dem Abschluss Pflegefachperson zurzeit fünf Wege und drei Abschlüsse gebe, was nicht der Ursprungsgedanke des Gesetzgebers gewesen sei. Aufgrund von Gegenstimmen im Gesetzgebungsverfahren wurde jedoch festgelegt, dass die Auszubildenden ein Wahlrecht haben, ob sie einen Spezialabschluss wählen möchten oder nicht. Trotz dieser Möglichkeit haben bisher (Stand Juli 2024) seit der Einführung der Generalistik über 98% der ausgebildeten den Pflegeabschluss „Pflegefachmann/Pflegefachfrau/Pflegefachperson“ gewählt. Die Schulen bieten jedoch teilweise auch keine Spezialabschlüsse mehr an, weil es aus wirtschaftlicher Sicht nicht umsetzbar sei.
Ein Mythos sei auch, dass die Ausbildungsabbrüche gestiegen seien. Abbrüche hätten nicht mehr als in anderen Ausbildungsberufen zugenommen. Nach wie vor führten u.a. der sog. „Praxisschock“ oder andere persönliche Gründe zur Umorientierung in der Berufswahl führen. Das bestätigte auch Moderator Joachim Prölß. Die Gesamtzahl der Ausbildungszahlen sei relativ stabil. Erschreckend sei die Entwicklung in der Praxisanleitung. Eine Studie des DBfK aus dem März 2024 zeige, dass derzeit lediglich 27% der Auszubildenden immer ihre vorgeschriebenen 10% Praxisanleitung erhielten und 20% der Befragten diese selten bis nie bekäme. In diesem Kontext verweist Drude auch auf die fehlende ideelle und materielle Wertschätzung für Praxisanleiter*innen, die eigentlich Lehrpersonen in der Praxis seien und Bachelorstatus bekommen sollten. Praxisanleitung bedeute strukturierte und geplante Anleitung und nicht: „Komm mal mit, ich zeige dir das mal und morgen machst du das alleine“.
Simuliert ihr noch oder pflegt ihr schon?
Ein Simulationslabor als dritten Lernort stellte Alisa Trummer vom Simulation Lab der Evangelischen Hochschule (ehs) Dresden vor. Das Simulationslabor der ehs besteht aus verschiedenen Simulationsräumen zur stationären und ambulanten Pflege und ist somit nach dem beruflichen Handlungsfeld ausgerichtet. Dieser dritte Lernort steht den Studierenden während ihres primär qualifizierenden Pflegestudiums für praktische Übungen zur Verfügung.
In dieser kreierten ‚realen‘ Welt werden Theorie und Praxis miteinander verknüpft und verschiedene Lernmethoden angewendet. Dabei wird zwischen low fidelity und high fidelity Methoden unterschieden. Wobei unter die low fidelitys Skills und Tasktrainer sowie der Einsatz von Manikins (Simulationspuppen) fallen, die eine niedrige Realitätsdarstellung aufweisen und vor allem für das Einüben der Handlungen an sich wie bspw. eine Portnadel zu setzen oder die Körperpflege bzw. Mobilisation zu üben, verwendet werden. Unter die high fidelity Kategorie fallen bspw. Simulatoren, die Vitalzeichen abbilden können und auf einen reagieren. Sie sind sehr realitätsgetreu in dem, was sie abbilden können. Es werden aber auch Simulationspersonen eingesetzt, Schauspieler, die regelmäßig geschult werden. Die Vorteile der Simulation sieht Trummer u.a. in der Entwicklung des klinischen Urteilvermögens, des kritischen Denkens und der beruflichen Handlungskompetenz. Außerdem werden Kommunikations-Skills trainiert und Copingstrategien im Umgang mit Stress entwickelt.
Wichtig sei ein sicherer Rahmen für die Studierenden. Es wird über Fehler gesprochen und mithilfe des WWW-Modells (Wahrnehmung-Wirkung-Wünsche) Feedback gegeben. Dafür wird eine „psychologische Sicherheitssituation“ geschaffen, in der Meinungen, Ängste etc. frei geäußert werden können.
Pflegeattraktiv - Der Weg ist das Ziel
„Ich liebe es Menschen in ihrer empfindsamsten Phase begleiten zu dürfen, die Kompetenz zu haben in einem multiprofessionellen Team Strategien zu entwickeln, Lösungen zu finden und Maßnahmen einzuleiten und diese zu evaluieren“
sagt Sabrina Roßius auf der Fobi und somit sei Pflege für sie der schönste Beruf der Welt. Aus diesem Grund hat sie gemeinsam mit dem Bundesverband Pflegemanagement das Konzept Pflegeattraktiv (PflegeZert) ausgearbeitet. Dieses Zertifizierungsprogramm zeichnet professionelle Pflege, attraktive Arbeits- und Rahmenbedingungen aus. Pflegeattraktiv bedeutet: als Unternehmen pflegeattraktiv zu sein, die Pflegenden auf Augenhöhe zu beteiligen und für die Menschen, die versorgt werden, attraktiv zu sein. Das Zertifizierungsverfahren ist so aufgestellt, dass es einen Kulturwandel hervorbringt. Das heißt, die Haltung gegenüber Mitarbeiter*innen, Prozessen, Kolleg*innen, Schnittstellen soll sich zum Positiven verändern. Ziel des Kulturwandels soll sein, Resilienz im Umgang mit den ständig verändernden Umweltbedingungen wie bspw. Mangel an Personal oder Angehörige, die sich verändern etc. zu entwickeln.
Jede Einrichtung kann sich zertifizieren lassen, überall dort wo Pflege stattfindet, (vom ambulanten Pflegedienst bis zur Uniklinik). Voraussetzung ist, dass die Personen aus der Pflege kommen und Projekterfahrung mitbringen, sowie die Schnittstellen mit einzubeziehen. Die Zertifizierung läuft so ab, dass die Häuser innerhalb eines halben Jahres sechs Projekte identifizieren und planen, dann werden sie bereits zertifiziert. Darauf folgen 2 ½ Jahre, in denen an diesen Projekten bzw. dem Kulturwandel gearbeitet wird. Die Einrichtung wird also dafür ausgezeichnet, dass sie sich auf den Weg macht, um etwas zu verändernDiese sechs Projekte werden schließlich „bottom up“ entwickelt, bei denen sich 30-40 Personen, von der Hilfskraft über die Auszubildenden bis hin zur Geschäftsführung, sich anhand sechs verschiedener Kriterien fragen, wo es bereits gut läuft und was verändert werden sollte, um schließlich an ihren Prozessen zu arbeiten.
Let´s talk about Sex - Sexualität in der Pflege
Hannah und Judith Burgmeier sind Gründerinnen des ersten ambulanten Pflegedienstes in Deutschland mit dem Schwerpunkt auf Sexualität und geschlechtlicher Vielfalt. Auf der Fobi haben sie darüber gesprochen welche Auswirkungen die Tabuisierung von Sexualität in der Pflege haben kann und wie wichtig es ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Vor allem im Pflegekontext kann der Ekel eine große Rolle spielen, wenn man sich bspw. vor Körperflüssigkeiten (Ejakulat) oder Gerüchen, Gefühlen, Berührungen etc. ekelt. Das Gegenteil dazu ist die Freude, die aufkommen kann, wenn man Menschen begegnet, die man mag. Neben den anderen Grundemotionen zähle vor allem die Überraschung, so Hannah Burgmeier, ganz besonders zur Sexualität. So könne man bspw. von Gefühlen, Menschen, Situationen oder anderen Dingen im Pflegealltag überrascht werden. Dass Sexualität ein Tabu sei, habe seine Wurzeln in der Historie, so Burgmeier. Doch auch heute sei die Medizin, was Sexualität betrifft, noch sehr konservativ. Die Nicht-Beachtung der Sexualität erleichtert auch sexuelle Gewalt in der Pflege, deshalb plädieren Hannah und Judith Burgmeier dafür, dass als Präventionsmaßnahme über Sexualität in Ausbildung und Alltag gesprochen wird.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Transsexualität in der Pflege. Die Pflege von transsexuellen Personen bedarf anderer Wissenskompetenzen, die in der Ausbildung, so Burgmeier, nicht vorkämen. Körperbildverändernde Maßnahmen, wie Medikamenteneinnahmen (bspw. Hormone) oder Operationen erfordern spezielle Versorgung. Wie wäscht man bspw. einen Penoid, einen künstlichen Penis? Wie trage ich eine Testosteronsalbe auf? Oft wissen die Patient*innen mehr über die Pflegemaßnahmen als die Pflegefachperson konstatiert Hannah Burgmeier. „Wir sind sexuelle Wesen bis zum Schluss“ sagt Judith Burgmeier und plädiert deshalb für eine positive Sexualkultur in den Gesundheitseinrichtungen und fordert dazu auf, dass die Einrichtungen diese auch in den Leitbildern verankern.
Darf er so? – Delir und Demenz im Krankenhaus
Laut der GhoSt-Studie (2019) weisen etwa 40% der über 65-Jährigen bei Einlieferung in ein Krankenhaus kognitive Störungen auf. Von den 40% haben ca. 20% eine Demenz Menschen mit Delir Symptomen sind in der Regel nicht in der Lage zu erkennen, welches Bedürfnis sie in dem Moment haben, dieses in Worte zu fassen und zu schließen welche adäquate Handlung auf das Bedürfnis folgen könnte. Ihnen fehlt also die Fähigkeit, das was der Körper einem sagt zu entschlüsseln. Zum Delir, so Hennig, komme es häufig, wenn die Patient*innen ein hohes Alter haben, kognitiv vorgeschädigt, multimorbid und polypharmaziert sind und zudem noch Stress hinzukommt. Das ist oft bei Verlegungen aus der Häuslichkeit oder dem Pflegeheim in eine Klinik oder auch nach Operationen der Fall.
40-60% der Delire werden in deutschen Krankenhäusern von Pflegekräften übersehen, so Hennig. Um das zu ändern, stellt er verschiedene Maßnahmen vor. Eine istbspw. das sog. „One Minute Wonder-Plakat“, welches an einem Ort auf Station aufgehängt wird, an dem alle ständig vorbeikommen und eine Minute verweilen (bspw. Toilette). Auf diesem Plakat sind noch einmal die wichtigsten Maßnahmen aufgelistet, die ein Delir nicht nur erkennen, sondern auch lindern helfen wie bspw. Mobilisierung des Patienten, Delir Assessment, Brille, Hörgeräte und Zähne reichen, Schmerzen lindern, Flüssigkeit zuführen etc. Außerdem sei der Körperkontakt zu vertrauten Personen essentiell für die Linderung eines Delirs, so Hennig. Im Grunde solle ein „Best Friend-Vorgehen“ gelebt werden, also all das tun was auch ein guter Freund machen würde. Ist ein Delir diagnostiziert, sei es zudem wichtig, dass alle Beteiligten darüber informiert werden und ein Vermerk auf der Krankenakte deutlich zu erkennen ist. Es gibt mittlerweile in Deutschland einige Akteure im Gesundheitswesen, die dafür plädieren, dass dem Delir der Status eines medizinischen Notfalls zukommt. Vor allem wenn bedacht wird, dass eine gefährliche Koexistenz von Delir und Demenz vorliegt. Das heißt, Menschen, die ein Delir haben erkranken schneller an Demenz und umgekehrt.
Hennings Aufgabe an die Teilnehmenden: Sich jetzt schon Gedanken über seine eigene „Lern von mir Karte“ zu machen. Diese Karte, auf der die Themen, über die man mit der Person ins Gespräch kommen kann, wie die Lebens- bzw. Herzensthemen, notiert sind, sollte bei Demenzpatient*innen ausgefüllt auf dem Nachtisch stehen.
Bedeutung der Stimme
Abgerundet hat die Fortbildung für Pflegende Schauspielerin und Stimm-Coach Julia Hansen. Sie führte dem Publikum eindrücklich vor Augen, welche Rolle die Stimme bzw. das Klangbild in verbaler Kommunikation ausmacht. Körper und Stimme gehören zusammen, so Hansen. Damit meint sie, dass die Stimme beim Sprechen immer Signale mitgibt, die etwas über den Gemütszustand der sprechenden Person aussagen. Sprechen ist somit auf verschiedenen Ebenen ein Akt der Mit-teilung. Somit ist Stimme auch immer Seele bzw. Ausdruck. Wenn wir die eigene Stimme annehmen können, können wir uns selbst annehmen und wertschätzen. Denn nur dann können wir auch andere Menschen wertschätzen, da Wertschätzung keine Einbahnstraße sei, so Hansen.
Die eigene Stimme kann als Werkzeug begriffen werden, das in verschiedenen Situationen unterschiedlich eingesetzt werden kann. So braucht es bspw. einen ruhigen positiven angenehmen Ton, wenn wir Fragen stellen wie „Wie geht es Ihnen heute?“, der frei ist von Mitleid, schlechter Laune, oder übertrieben fröhlicher Stimme. Sondern einen sehr direkten, aus dem Körper strömenden Ton. Es sollte zudem darauf geachtet werden, dass man auch stimmlich auf Augenhöhe ist. Das gelingt, indem Raum und Zeit für das Gegenüber gelassen werde. Die Stimme solle nicht nur senden, sondern auch erreichen, so Hansen.
Die nächste Fortbildung für Pflegende findet am 18. November 2025 in Kassel statt. Abonnieren Sie den Newsletter der B. Braun-Stiftung und folgen Sie ihr auf LinkedIn und Instagram, damit Sie keine Neuigkeiten verpassen.