"Die Ausbildung in der Medizin bedarf dringend einer Überarbeitung"
Prof. Dr. Irina Berger, Chefärztin im Pathologischen Institut des Klinikum Kassel ist neues Mitglied im Kuratorium der B. Braun-Stiftung. Im Interview mit uns spricht die Pathologin über Wissenschaft, gemeinsames Lernen über die Berufsgruppen hinweg und eine unterschätzte Generation Z.
Liebe Frau Professor Berger, wie fühlt es sich an Kuratoriumsmitglied in der B. Braun-Stiftung zu sein?
Es ist für mich eine Ehre, ein Kuratoriumsmitglied zu werden. Ich bin für das Vertrauen meiner Person gegenüber sehr dankbar.
Haben Sie schon eine Idee, welche Impulse Sie setzen möchten?
Meine beruflichen Interessen sind maßgeblich von der Edukation und Wissenschaft geprägt. Unsere Ausbildung in der Medizin bedarf dringend eine Überarbeitung, vor allem in Hinblick auf die Verstärkung der interdisziplinären und interprofessionalen Schwerpunkte. Im Krankenhaus arbeiten Ärzte, Pfleger, MTAs, Hebammen etc. immer zusammen. Ausgebildet werden sie allerdings so, als ob sie jeweils getrennt für sich arbeiten würden. Ich glaube fest daran, dass die Ausbildung der Ärzte und Pflege blockweise zusammenlaufen soll, vor allem Übungen der klinischen Situationen, wie Rettung, OP, Geburt usw. Wir brauchen ein gemeinsames Kommunikationstraining, s. g. Professionalism-Training oder Training der Stress-Bewältigung im Alltag. Dies fehlt im jetzigen Curriculum. Ich denke, mit diesen Schwerpunkten kann ich im Kuratorium der B. Braun-Stiftung, die ja die Interprofessionalität seit vielen Jahren fördert, neue Impulse setzen.
Was verbindet Sie mit der Stiftung?
Ich habe bereits Erfahrung durch eine Zusammenarbeit mit der Stiftung durch die Kassel Medical School (KSM). Die Stiftung unterstützt KSM-Studenten bei Forschungsprojekten. Die Zusammenarbeit war immer fair und vom gegenseitigen Vertrauen geprägt.
Sie leiten die Pathologie in dem größten Klinikverbund in Nordhessen. Welches sind die größten Herausforderungen?
Die Pathologie ist ein Dienstleister und Kommunikator. Als ein Institut für Pathologie kooperieren wir außer mit dem Klinikum Kassel mit 14 weiteren Krankenhäusern in Kassel und der Kasseler Umgebung, Baden-Württemberg, Bayern, Rheinland-Pfalz sowie vielen niedergelassenen Kollegen. Eine Herausforderung ist es, „Schritt halten“ zu können bei einem immer größer werdenden Spektrum der molekular basierten Diagnostik für eine personalisierte Therapie. Eine Implementierung der modernen onkologischen Therapie bedarf einer Abstimmung mit dem Pathologen. Der Pathologe ist dabei herausgefordert die Untersuchungen schnell, zuverlässig und umfassend durchzuführen. Häufig ist das eine vorausschauende Arbeit, bei der die Implementierung der entsprechenden Untersuchungen bereits vor der Zulassung der Medikamente erfolgen soll. Aus diesem Grund sind wir ständig im Dialog mit den Klinikern, Wissenschaftlern und den Pharmakologischen Einrichtungen. Es macht unsere Arbeit sehr dynamisch und spannend.
Eine weitere Herausforderung ist das Überwinden der Distanzen für die schnelle Lieferung der Proben. Die traditionalen Wege, wie Autotransport oder Postversand werden zunehmend durch eine virtuelle Pathologie ergänzt. Zurzeit arbeiten wir im hohen Tempo an einer Möglichkeit eines Transportes der Schnellschnitte mit einer Drohne.
Als Dekanin stehen Sie für die Ausbildung von Ärzt*innen in der privaten Universität, der Kasseler School of Medicine. Was bedeutet es für Sie, sich für den medizinischen Nachwuchs zu engagieren?
Die KSM ist keine private Einrichtung. Es ist ein gemeinsames Studienprogramm mit der staatlichen Universität in Southampton. Dieses Studium ist in Deutschland im vollen Umfang anerkannt. Unsere Studierenden sind in der Universität Southampton immatrikuliert und bekommen einen englischen Abschluss. Bei dem KSM Projekt bin ich von den ersten Tagen an dabei.
Ich glaube, dass nur wenige Leute behaupten können, dass sie ein Studienprogramm vom ersten Tag an aufgebaut haben. Bei der internationalen Arbeit besteht eine zusätzliche Herausforderung darin, in einem anderen Gesundheitssystem, anderer Kultur, anderer Tradition und der medizinischen Ausbildung einen gemeinsamen „Nenner“ zu finden, Leute zu mobilisieren und rekrutieren, die dann einen gemeinsamen Weg bestreiten. Die KSM ist nicht eine simple „Übersetzung“ des englischen Curriculums für Deutschland. Es ist vielmehr ein innovativer Studiengang, in dem die besten Erfahrungen des englischen und deutschen Gesundheitssystems zusammengebracht werden. Das englische Curriculum ist bekannt für die patientennahe Ausbildung. Das deutsche Curriculum ist sehr auf die wissenschaftliche Basis bezogen. Das versuchen wir in der KSM zu berücksichtigen. Es gibt sogar ein Modul, in dem wir zwei Systeme miteinander vergleichen und versuchen, die besten Erfahrungen herauszuarbeiten.
Da spricht viel Leidenschaft. Was ist das Besondere an diesem Studium?
Alles! Es ist ein Unikat. Nach dem KSM Abschluss können unsere Absolventen in UK, dem gesamten Commonwealth, Deutschland, EU, Schweiz und Norwegen ohne Auflagen arbeiten. Ich bin natürlich sehr stolz darauf, wenn Absolventen in Kassel bleiben. Vom letzten Studiengang unterstützen 8 (von 25) mit ihrer hervorragenden Arbeit Kasseler Krankenhäuser.
Es wird viel über die Generation Z geschrieben, nicht unbedingt Gutes. Wie sind Ihre Eindrücke und Erfahrungen?
Es wird selten - egal über welche neue Generation - Gutes geschrieben. Jede neue Generation ist anders, als die vorherige, hat andere Ansichten auf die Welt und das, was am Geschehen ist. Ich finde diese Generation toll. Es ist eher unser Problem mit einer Generation umzugehen, die viel selbstbewusster, technisch orientierter und medial präsenter ist, als wir es je waren. Ich lerne viel von der Generation Z, zu der auch unsere Studierenden oder meine eigenen Kinder gehören. Wenn man sich selbst nahbar zeigt und das eigene „Nicht perfekt sein“ zugibt, findet man sehr schnell eine Kommunikationsebene, die beide Seiten bereichert. Für die Generation Z ist eine Kommunikation auf einer Augenhöhe, gegenseitigen Respekt und möglichst wenig Belehrung vom Oben herab und Akzeptanz deren Selbstständigkeit wichtig. All das war uns auch wichtig, aber hatten wir den Mut, es genauso zu kommunizieren?
Die Qualität der medizinischen Forschung in Deutschland – wie würden Sie diese bewerten?
Die Frage kann man nicht mit gut oder nicht so gut beantworten. Deutschland verfügt über ein sehr hohes Level der Wissenschaft, keine Frage. Die Wissenschaft steht jedoch unter einem enormen Erwartungs- und Leistungsdruck. Es muss nobelpreisverdächtige Entdeckungen regnen, und alles am liebsten zu einer kostenneutralen Kondition. Universitäten und Wissenschaftler einer Universität stehen in einer Konkurrenz zu einander, bei der der Gewinner derjenige ist, der am meisten publiziert und am besten die Drittmittel akquiriert, da Staat/Land kein ausreichendes Geld für die Forschung hat. Wie häufig wird Forschung für die Karriere gemacht und stoppt, sobald das Ziel erreicht ist? Andererseits, es ist das Gute an Wissenschaft, dass man unerwartet eine weltbedeutende Entdeckung macht, wenn man was ganz anderes untersucht. Ich wünsche der modernen Wissenschaft etwas weniger Druck, mehr geistige Freiheit und natürlich bessere Finanzierung.
Wenn Sie in verantwortlicher Funktion im Gesundheitsministerium tätig wären – welches wären die ersten Maßnahmen, die Sie durchführen würden, um das Gesundheitssystem zu verbessern?
Sehr schwierige Frage. Es ist leichter aufzuzählen, was verbesserungsbedürftig ist, als tatsächlich konkrete Maßnahmen vorzuschlagen. Ich bin wie viele andere ratlos. Ich weiß es einfach nicht.
Zu Prof. Dr. Irina Berger:
Prof. Dr. med. Irina Berger ist Fachärztin für Pathologie und Molekulare Pathologie und seit 2007 als Chefärztin am Pathologischen Institut des Klinikum Kassel tätig. Sie ist in Russland aufgewachsen und hat dort Humanmedizin studiert, promoviert und sich habilitiert. Bevor sie 1996 nach Deutschland kam, arbeitete sie als Oberärztin am Pathologischen Institut der Universität Kemerovo. In Deutschland absolvierte sie verschiedene klinische und wissenschaftliche Tätigkeiten an den Universitäten Mainz und Heidelberg, dem Deutschen Krebsforschungszentrum und dem Zentrum für Rheuma-Pathologie. Sie erwarb ihre Professur an der Universität Heidelberg. Neben ihrer Tätigkeit als Chefärztin trägt Irina Berger als Associated Clinical Sub Dean der Kassel medical School/University of Southampton die Verantwortung für den Medizinstudiengang. Ihre wissenschaftlichen Interessen umfassen orthopädische und onkologische Aspekte. Zu diesen Schwerpunkten referiert sie in der Internationalen Akademie für Pathologie.