Blick in die Zukunft: Ein Jahr in einem „Welttempel“ der Medizin
Once in a Lifetime – so ließe sich eine Gastprofessur an der Johns Hopkins-Universität wohl umschreiben. Dies wurde Prof. Dr. med. Bösel zuteil, Chefarzt für Neurologie am Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster, und seit sechs Jahren als Kurator der Braun-Stiftung für die Begutachtung von Forschungsanträgen zuständig. Wir haben von ihm erfahren, wie das Jahr so lief, welche Erkenntnisse er gezogen hat und was es für uns in Deutschland zu lernen gibt.
Lieber Julian, Hopkins ist Amerikas Nr. 1 in Sachen Klinik und Forschung – wie kam es zu dieser Ehre einer Gastprofessur in Baltimore?
Ich hatte das Glück, vermutlich basierend auf meiner Forschung und meinem Engagement in internationalen Fachgesellschaften im Bereich Neuro-Intensivmedizin, eine Gastprofessur von der Neurologischen Fakultät an Johns Hopkins angeboten zu bekommen.
Es stimmt, dass Hopkins unter den US-amerikanischen Universitätskliniken wissenschaftlich -und klinisch- ganz, ganz oben rangiert und auch mehrfach in Folge zum „top-ranked Hospital“ der USA gewählt wurde. Das traditionsreiche Haus wurde Ende des 19. Jahrhunderts zunächst als Krankenhaus für die bedürftigen Bürger Baltimores gegründet. Es war und ist aber stets am Puls der Zeit und zukunftsprägend ausgerichtet, hat unzählige Erfindungen / Entdeckungen der Medizin und Nobelpreisträger hervorgebracht. In Europa ist es, wenn überhaupt, noch am ehesten mit der Charité vergleichbar. Viele werden sich noch erinnern: Die meisten relevanten Erkenntnisse zu Patientenverläufen zu Beginn der Corona-Pandemie sind aus Hopkins gekommen.
Was hast du dort alles gemacht bzw. womit hast du dich in der Forschung beschäftigt?
Ich habe dreiteilig wie an Universitätskliniken üblich, auf Visiten komplexe neurologische Patienten mit den Teams diskutiert und behandelt; am Krankenbett, im Seminarraum oder auch online Lehre in Neurologie erteilt und, dies bildete den Schwerpunkt, geforscht. Bei meinem Forschungsauftrag ging es v. a. darum, in der Neuro-Intensiv- und Schlaganfallmedizin Projektgruppen an Hopkins zu begleiten und Kollaborationen mit diesen und Gruppen in Deutschland aufzubauen, was auch gut gelungen ist. Ein übergreifendes Forschungsthema dabei war die Anwendung von Künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence, AI) in der Neuromedizin.
Sind die Amerikaner in Sachen AI weiter?
Ich denke nicht, dass die US-Amerikaner inhaltlich oder kreativ in Sachen AI weiter sind als wir oder viele andere. Aber wie in vielen anderen Bereichen wurde in den USA und gerade an der Hopkins das Thema AI sehr früh als absolut zukunftsweisend und vielversprechend erkannt und massiv gefördert. Dieser organisatorische, regulative und natürlich auch finanzielle Push hat inzwischen sicherlich zu einem Vorsprung geführt. Hinzu kommt, dass die Digitalisierung von Krankenhäusern in den USA sehr viel weiterentwickelt ist als bei uns, und das ist natürlich die Voraussetzung für die Anwendung von AI. Es war für mich sehr inspirierend, an Hopkins zu beobachten, an wie vielen Stellen die AI schon medizinisch zum Einsatz kommt und auf welchem Niveau.
Wo siehst du – für dein Fachgebiet der Neurologie – die größten Entwicklungspotenziale in Bezug auf die künstliche Intelligenz?
Die Neurologie ist schon seit Jahrzehnten sehr bildgebungsbasiert geworden. CT und MRT haben damals das Fachgebiet revolutioniert. Die Auswertung und Interpretation von radiologischen Bildern waren die ersten Gebiete für die AI in der Medizin, und entsprechend groß ist das Potenzial hier auch für die Neurologie. Es passiert wirklich gerade, dass mittels Machine Learning und anderen AI-Ansätzen ungeahntes neuroradiologisches Potenzial gehoben wird, das zeigt sich z. B. im Rahmen von bildbasierten Behandlungsentscheidungen beim Schlaganfall oder der Multiplen Sklerose.
Aber auch in viele andere Bereichen der Neurologie drängt die AI und zeigt erhebliches Entwicklungspotenzial, z. B. bei der EEG-Interpretation zur Diagnose und dem Verlauf von Epilepsien, bei der Früherkennung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson per Biomarker, Bewegungs-Devices oder Sprachanalysen, oder bei der Abschätzung von klinischen Verläufen und Prognosen.
War das das Thema deiner Forschungsarbeit?
Ja, um Letzteres ging es bei meiner Forschungsarbeit in der Neuro-Intensivmedizin an Johns Hopkins. Die Neurologie wird, wie die anderen medizinischen Fachbereiche auch hier bei uns erheblich durch die AI geprägt werden, und es war für mich toll, diesbezüglich schon einmal „in die Glaskugel“ schauen zu können. Dabei sieht man natürlich nicht nur Gutes, sondern auch gewisse Gefahren, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Hierzu gehören ethische Unklarheiten bzgl. der Verantwortung von Entscheidungen, der zukünftigen Rolle des ärztlichen „Experten“, die Cyber-Sicherheit, die Gefährdung der medizinischen Ausbildung und eigenverantwortlichen Forschung vor Hintergrund der Automatismus-Optionen, und nicht zuletzt -für uns Wissenschaftler besonders schwer zu akzeptieren- dass uns Algorithmen mit eindeutig besseren Lösungen versorgen, wir aber zunehmend den Weg dahin nicht mehr nachvollziehen können.
Ist das Wissen bereits in Deutschland angekommen?
Ich denke, es ist dabei, anzukommen. Es gibt einige Universitätskliniken wie Hamburg, Essen, Augsburg, Bonn, TU München und die Charité, um nur einige zu nennen, die sich der Digitalisierung und der AI in der Medizin besonders verschrieben haben. Aber die Entwicklung wird in Deutschland sicherlich langsamer vorangehen als in den USA, was u. a. an einer extrem heterogenen Digitalisierungslandschaft deutscher Krankenhäuser und einer anderen Einstellung zu Privatsphäre und Datenschutz liegt. Aber das muss nicht nur schlecht sein…
Lehren und forschen die Amerikaner anders?
Ich denke schon. Die medizinische Lehre in den USA, wie auch in UK, beinhaltete traditionell schon sehr früh den Patientenkontakt, also das Lernen des Medizinstudenten am Patienten im Krankenhaus. Das „Rounding“, also die Visite wurde z.B. Ende des 19. Jh. von Osler an Johns Hopkins etabliert und hat sich von dort über die ganze Welt ausgebreitet. Auch in UK ist das „Patient clerking“, bei dem sich der Student erstmal selbst mit dem Patienten befasst, ihn dann in strukturierter Form seinem Assistenz- oder Oberarzt vorstellt und dann gemeinsam mit dem zum Patienten zurückkehrt, schon seit gefühlten Ewigkeiten üblich. Ich habe das selbst bei meinen studentischen Auslandsaufenthalten in USA und UK erleben dürfen. Die jungen Ärzte in den USA, die „Residents“, haben ebenfalls sehr viel praktischen Einsatz. Sie leben förmlich in der Klinik.
Die Praxis hat also einen großen, zentralen Stellenwert in der medizinischen Lehre der USA. Demgegenüber war die medizinische Lehre in Deutschland früher eher theoretisch ausgerichtet. Zum Glück hat sich das in den letzten 10-20 Jahren durch Änderungen der Approbationsordnung, Verlinkung von Vorklinik und Klinik, neue Lehrformen usw. geändert und wird sich vermutlich weiter verbessern. Und ja, auch in der Forschung gibt es Unterschiede.
Warum ist das so?
Die Unterschiede in der Forschung der US-Amerikaner liegen zum einen möglicherweise in der grundsätzlichen Ambition (gerade in einem Forschungs-Mekka wie Hopkins), dem akademischen Druck („publish or perish“) und der stärkeren Notwendigkeit, sich selbst durch Forschungs-Drittmittel zu finanzieren. Letzteres bietet dann aber auchdie Chance, sich dadurch selbst für das Forschen von klinischen Verpflichtungen zeitweise zu befreien, bei einer sehr guten Forschungs-Infrastruktur und Organisation und einer vielfach besseren Ausstattung mit Laboren, Geräten, Material und Geldern. Dies wird nicht selten neben den öffentlichen Fördereinrichtungen auch durch private Zustiftung ermöglicht. Demgegenüber war und ist beim deutschen Arzt und Forscher leider nicht selten Feierabend- und Wochenendforschung angesagt (gewesen), er muss(te) das irgendwie neben der Klinik organisiert bekommen. Durch die Einrichtung von Physician-Scientist-Tracks, inspiriert aus dem Ausland, an mehreren deutschen Universitätskliniken, hat sich dies etwas gebessert. Zum anderen ist Forschung in den USA ein wohl noch größeres Geschäft als anderorts, dazu gehört z. B. dass die Universität, an der eine Studie durchgeführt wird, erheblichere Anteile der Fördergelder beansprucht („Overhead“) als es bei uns (noch) üblich ist, was wiederum bedeutet, dass Studien oft nur durchgeführt werden, wenn Sie mit vielen Millionen Funding an den Start gehen. Das bringt Selektion und tendenziell größere Studien mit sich, was beides Erfolgsfaktoren sein können.
Jetzt bist du Kurator im Kuratorium der B. Braun-Stiftung, deshalb unsere Frage - interprofessionelles Lernen / Arbeiten – findet das an der Johns Hopkins statt?
An Hopkins hat man sich diesem Prinzip allerorts verschrieben. Und es wird wirklich gelebt. Das merkt man nicht nur an dem sehr respektvollen Umgang miteinander, sondern auch an den gemeinsamen Treffen, Aktivitäten, Projekten usw., die verschiedene Berufsgruppen teilen. Auch die Administration stärkt solche Projekte, indem diese bewertet, belohnt und kundgetan werden (z.B. über sämtlichen PC-Bildschirmschoner).
Die Neuro-Intensivstation ist ein Ort gewesen, wo das Interprofessionelle von Ärzten, Pharmazeuten, Pflegekräften, Therapeuten, etc. besonders gut und täglich zum Ausdruck kam. Auf Visite z.B. stellt die Pflegekraft ihren Patienten vor, die Ärzte hören zu und stellen Fragen, Therapeuten und Pharmazeuten machen Ergänzungen, am Ende macht man einen gemeinsam Plan fürs weitere Vorgehen. Strukturen wie SOPs werden gemeinsam erarbeitet und etabliert. Es gibt Tage, an denen bestimmte Berufsgruppen „gefeiert“ werden, und zwar von den anderen. Das mag hier und da ein wenig „amerikanisch übertrieben“ rüberkommen, aber dies und jenes könnten wir uns hier davon abschneiden.
In Deutschland wird gerade etwas mühsam versucht, das Gesundheitssystem zu reformieren – viele sehen nur Nachteile, wollen letztendlich „ihren Besitz“ wahren. Kurz: Veränderung ist in Deutschland nicht so beliebt. Nun ist die Zeit, in der wir die Amerikaner für ihren Fortschritt bedingungslos gehyped haben, auch längst vorbei. Wie siehst du unsere Systeme im Vergleich – nach deinem Jahr in den USA?
Grundsätzlich finde ich, dass eine bestmögliche Gesundheitsversorgung, und damit meine ich vernünftige, evidenzbasierte Medizin, jedem Mitglied der Gesellschaft zur Verfügung stehen muss. Ich glaube an die Daseinsfürsorge im System, was nicht ausschließt, dass sich eine Minderheit von Bessergestellten über Privatversicherung Zusatzleistungen ermöglichen kann. Bei uns ist dies weitgehend gegeben, in den USA trotz der Reformen der letzten Jahre nicht. Von daher halte ich das Gesundheitssystem dort prinzipiell mal nicht für besser als unseres. Beide Systeme, in den USA wie in Deutschland, müssen sich aber vorhalten lassen, dass sie erheblich teurer sind als in anderen Ländern, aber nicht unbedingt zu besseren Zahlen in puncto Morbidität und Mortalität führen.
Deutschland hat eine Reform bitter nötig. Die Ansätze für eine sinnvollere Verteilung von Grund-, Schwerpunkt- und Maximalversorgern, für das Vorhalten bestimmter Leistungen, und für den Versuch, das Versagen des dualen Systems zu überkommen, finde ich grundsätzlich gut. Der Prozess wird aber dadurch gehemmt, dass alle Umsetzer an den Tisch müssen und - wie Du richtig sagst - Partikularinteressen haben. Eigentlich können wir uns Rivalität und Konkurrenzdenken in der Medizin nicht zuletzt wegen des krassen Fachkräftemangels gar nicht mehr leisten, aber zu viele Fehlanreize halten das aufrecht.
Im Gesundheitssystem der USA spielt das Stiftungs- und Förderwesen eine große Rolle. Vielleicht sollte sich auch Deutschland dem gegenüber offener zeigen als bisher.
Ohne Management geht es in leitenden Positionen eines Krankenhauses nicht mehr. Auch du hast einen MBA – hast du dich während deines Aufenthaltes auch mit Krankenhausmanagement und Leadership auseinandergesetzt?
Das habe ich, und bin für diese Möglichkeit im Nachhinein besonders dankbar. Ich konnte mit zahlreichen Führungskräften an Hopkins sprechen. Sie alle waren unheimlich nett, offen, interessiert und haben mir ohne Allüren Einblicke gewährt, wo sie was wie tun. Das war sehr inspirierend, aber auch bidirektional. Man wollte auch wissen, wie Leadership in Deutschland läuft und wie ich darüber denke. Sehr oft kamen wir dabei auf sehr ähnliche Prinzipien und Probleme, auch wenn die Dimensionen an Hopkins so viel größer sind und manche Themen dort einfach schon pionierartig seit langem auf höchstem Niveau angegangen werden.
Ein besonderes Highlight war z.B. das Capacity Command Center, wo ähnlich wie in einem Flughafen-Tower vier interprofessionelle Teams in einem großen Raum mit vielen Bildschirmen sitzen und die Patientenströme in den 15 Häusern der Hopkins Maryland – Region koordinieren. Sozusagen alle Facetten von Teamwork, Kommunikation und Leadership in einem Raum und live zu beobachten.
Was nimmst du aus der Zeit an der Johns Hopkins, die ja nicht unberechtigt als „Welttempel der Medizin“ gilt, für deine neue Stelle in Neumünster mit?
Es ist natürlich nicht möglich, das meiste 1:1 nach hier drüben zu übertragen. Aber ich habe viele Anregungen erhalten bei Dingen wie Stations- und Abteilungsorganisation, Qualitätsmanagement, digitalem Arbeiten, Medizincontrolling, Anwendungen von KI im Krankenhaus, Teamkommunikation, Netzwerk-Koordination, Fundraising, effizienter Dokumentation, etc. die man gut woanders etablieren kann. Letztlich war Hopkins für mich die Krönung einer „Reise“ durch große Häuser wie Charité, Uniklinikum Heidelberg und Klinikum Kassel, die mir ein tolles Spektrum an Erfahrungen beschert hat. In diesem Sinne möchte ich das Beste, das ich auf dieser Reise eingesammelt habe, am FEK Neumünster, einem Haus mit viel Potential, einbringen und die Entwicklung dort „mitten im echten Norden“ mitgestalten.
Was würdest du Medizinstudierenden heute raten für ihre Karriere?
Lasst Euch begeistern, seid offen und engt Euren Weg nicht zu früh ein. Beißt Euch immer mal durch, das lohnt sich meist, und seid veränderungsbereit, wenn das Studium an einem Ort nicht das richtige für Euch ist. Findet heraus, ob Wissenschaft etwas für Euch ist und wenn ja, promoviert während des Studiums. Das Medizinstudium ist nach wie vor eines der faszinierendsten und erlaubt heute eine breitere Berufspalette denn je – nicht nur als Ärztin oder Arzt.
Du hast Nordhessen den Rücken gekehrt – lag das nur daran, dass hier zu wenig Wasser ist?
Kassel ist eine wirklich gute Stadt und die nordhessische Landschaft drumherum wunderschön, insofern gehe ich nicht davon weg, sondern woanders hin. Auch wird es aus familiären Gründen eher ein Übergang als ein abrupter Weggang, und ich freue mich, Nordhessen in den nächsten Jahren immer wieder zu besuchen. Aber ich muss gestehen, dass der „echte“ Norden, meine Heimat Schleswig-Holstein, und das Meer mich als begeisterten Segler schon immer wieder hörbar „gerufen“ haben. Insofern freue ich mich ehrlich gesagt SEHR auf das Wasser und die Küste da oben, wo auch der Rest meiner Familie lebt.
Zur Person:
Prof. Dr. med. Julian Bösel (53) studierte Medizin in Heidelberg und London mit Auslandsaufenthalten in Südafrika, Lateinamerika und den USA. Von 2002 bis 2007 spezialisierte er sich in Neurologie und experimenteller neurowissenschaftlicher Forschung über neuronale Hypoxie am Universitätsklinikum Charité Berlin. Nach beruflichen Stationen in Heidelberg und Kassel, wo er bis 2022 als Klinischer Direktor auch ein Schlaganfallzentrum und ein telemedizinisches Netzwerk verantwortete, machte er seinen MBA und forschte als Gastprofessor an der Johns Hopkins-Universität in Baltimore, M.D.
Er ist unter anderem Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für NeuroIntensiv- und Notfallmedizin (DGNI). Seit Oktober 2024 ist Bösel Chefarzt für Neurologie am Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster (FEK). Das FEK ist ein kommunaler, traditionsreicher, modern ausgerichteter Schwerpunktversorger, der über mehrere Bauabschnitte zum Maximalversorger geführt wird. Der dreifache Familienvater ist passionierter Segler. Für ihn als geborenen Lübecker ist es nach 30 Jahren auch die Rückkehr in seine Heimat Schleswig-Holstein.