Wir brauchen Intelligenz, Engagement und Fantasie, um gute und kostengünstige Lösungen zu entwickeln
Deutschland ist das teuerste Gesundheitssystem der EU und hat schlechte Ergebnisse hinsichtlich Prävention, Digitalisierung und Mortalität – trotz vergleichsweise hoher Kapazitäten. Integrierte Versorgungsmodelle entstehen, allerdings mangelt es an einheitlichen Finanzierungsmodellen. Warum fällt es so schwer, Standards im Versorgungsalltag zu formulieren, die regionale Steuerungsprozesse erleichtern? Justin Rautenberg und Dr. h.c. Helmut Hildebrandt von OptiMedis haben mit uns über die Entwicklungen in Deutschland gesprochen.
Wie erfolgreich sind IV-Projekte in Deutschland?
Helmut Hildebrandt: Wenn man Integrierte Versorgung auch zwischen einzelnen Disziplinen schon als solche bezeichnet, dann gibt es ganz viele Projekte. Sie werden zumeist über Krankenkassen durch Zusatzvergütungen oder durch den Innovationsfonds der GKV als Modellprojekte finanziert. Zum Erfolg der mit den Krankenkassen vereinbarten Projekte gibt es leider keine guten Auswertungen. Wenn man als Maßstab die Fortsetzung der Verträge ansetzt, dann dürfte so etwa die Hälfte der Projekte als erfolgreich gewertet werden. Zu den Innovationsfonds-Projekten dagegen gibt es mehr Daten. Aktuell schätzen wir, dass rund ein Drittel von ihnen vom Innovationsausschuss positiv bewertet wurde.
Justin Rautenberg: Betrachtet man Integrierte Versorgung aber eher im Sinne der internationalen Diskussion als Zusammenführung von sozialen und gesundheitlichen Interventionen zur Vermeidung der Krankheitsprogression einer ganzen Population, dann gibt es nur rund 10 bis 15 Projekte, die man als erfolgreich bezeichnen kann. Allerdings sind auch diese in ihrer Umsetzung und Reichweite unterschiedlich weit.
Wir haben uns kürzlich in der Schweiz über IV-Modelle informiert. Da zeigte sich, dass es tragbare Finanzierungsmodelle gibt, aber keine einheitlichen. Wie sieht es mit der Finanzierung in Deutschland aus?
Justin Rautenberg: Modellprojekte können nicht nur über den Innovationsfonds der GKV, sondern auch über den §140a SGB V „Besondere Versorgung“ finanziert werden. Problematisch ist jedoch bei populationsorientierten Ansätzen, dass eine solche Vereinbarung für jede einzelne Krankenkasse abgeschlossen werden muss. Mit dem aktuell diskutierten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) bietet sich aber perspektivisch mit der Umsetzung eines „Gesundheitskiosks“ oder einer „Gesundheitsregion“ eine Basis für weitere integrierte Versorgungsansätze, die die Kommunen sowie alle Krankenkassen mit Versicherten in den jeweiligen Regionen zu einer anteiligen Basisfinanzierung verpflichtet.
In Kombination mit den bestehenden Finanzierungsinstrumenten eröffnen diese neuen Ansätze eine langfristig tragbare Finanzierungsgrundlage. Wichtig ist dabei, dass die richtigen Anreize zur Integration und zur Optimierung der Versorgung und somit auch mittelfristig zur Kostenreduktion gesetzt werden.
Wo liegen die Unterschiede / Gemeinsamkeiten zu der Schweiz?
Justin Rautenberg: Durch die Franchise (Selbstbehalt im Leistungsfall) in der Schweiz haben Versicherte dort zum Beispiel ein höheres Verständnis für eine Eigenbeteiligung, wenn es um die eigene Gesundheitsversorgung geht. In Deutschland wird eine gute Versorgung eher noch als Selbstverständlichkeit angesehen. Die Versicherten haben einen geringeren Anreiz als in der Schweiz, Eigenverantwortung für ihre Gesunderhaltung zu übernehmen. Dadurch hat leider auch die Prävention in Deutschland einen viel geringeren Stellenwert.
Auf der anderen Seite ist die Transparenz der Versorgung (und möglicher Fehlversorgung) in der Schweiz durch die eingeschränkte Datenlage bei den Krankenkassen nicht so ausgeprägt wie in Deutschland. Zielgerichtete integrierte Versorgungsansätze mit der entsprechenden notwendigen Ergebnismessung auf Versichertenkollektive sind somit schwieriger umzusetzen.
Helmut Hildebrandt: Ein weiterer Unterschied ist, dass IV-Lösungen in der Schweiz vorrangig von besonders vorausdenkenden Ärzten entwickelt und dann um die ambulante Pflege (Spitex) ergänzt wurden. Die Krankenhäuser kamen eher zum Schluss dazu. In Deutschland waren es zwar auch oft engagierte Ärzte, die Projekte initiiert haben, vielfach haben aber auch Krankenhäuser den Anstoß gegeben (allerdings dann oft nur kleinen Kooperationslösungen). Die Ärzteschaft als Ganzes tat sich eher schwer. Die oben erwähnten 10 bis 15 größeren populationsorientierten Lösungen sowie unsere eigenen OptiMedis-Lösungen sind alle in Zusammenarbeit mit regionalen Partnern entstanden, darunter auch einige Vertreter der lokalen Ärzteschaft.
Das heißt, es kann ein neues Verständnis der Zusammenarbeit entstehen?
Ja, vielfach gibt es in diesen Lösungen auch ein neues Verständnis der Rolle von Pflegefachkräften, außerdem werden Gesundheitslotsen einbezogen, die u. a. die Gesundheitskompetenz der Menschen fördern. Von Pflegediensten (bzw. in der Schweiz Spitex) über Physiotherapeuten, Hebammen und Kliniken bis hin zu Vereinen und Kommunen sind alle zur Mitarbeit willkommen. Im Gesunden Werra-Meißner-Kreis beispielsweise haben wir mit all diesen Partnern ein umfangreiches Netzwerk aufgebaut (www.gesunder-wmk.de).
Welche Möglichkeiten entstehen in den Berufsbildern für Weiterentwicklung (APN)?
Helmut Hildebrandt: Hier tut sich Deutschland noch besonders schwer. Die Vertreter der Ärzteschaft auf nationaler Ebene sehen die Pflegenden noch eher als diejenigen, die das umsetzen, was ihnen Ärzte sagen (und wofür die Ärzte dann auch die Verantwortung tragen). Sie befürchten eine Verantwortungsdiffusion, wenn Pflegekräfte selbst Entscheidungen im medizinischen Bereich treffen. Manche befürchten wohl auch einen finanziellen Verlust für die Ärzteschaft, wenn Pflegende direkt medizinische Grundleistungen abrechnen könnten. Aber mit der Akademisierung der Pflege und anderer Berufe entwickelt sich ein Trend hin zu eigenständigen Berufsbildern mit eigener Verantwortungsübernahme. Dies gilt gleichermaßen auch für Rettungssanitäter und Physiotherapeuten. Auch die Apotheker dürfen und sollen künftig mehr Befugnisse bekommen. Durch die Pandemie hatten sie bereits die Erlaubnis, gegen Grippe zu impfen – gegen den Protest der Ärzteschaft. Aktuell wird außerdem viel über „Community Health Nurses“ diskutiert, diese sollen z. B. in den Gesundheitskiosken eigenständig arbeiten dürfen.
Welche Erfahrungen haben Sie als OptiMedis in Ihren eigenen regionalen Projekten gesammelt?
Justin Rautenberg: Bei den Lösungen, an denen wir beteiligt sind, wie Gesundes Kinzigtal, Gesunder Schwalm-Eder Kreis+ und Gesunder Werra-Meißner Kreis können wir sehen, wie zufrieden die Patienten, die Netzwerkpartner und die Kostenträger sind. Die Ergebnisse zeigen zum Beispiel, dass wir es bei mindestens gleicher medizinischer Qualität schaffen, den Eintritt in die stationäre Pflegebedürftigkeit zeitlich zu verschieben, und die Kosten für die Gesellschaft, also für die Krankenkassen, in der Größenordnung von 6 bis 7 Prozent relativ zu senken. Diese Zahlen wurden kürzlich sogar von der OECD in einer Simulationsrechnung auf ganz Deutschland (und die OECD-Länder) hochgerechnet, die dabei auf 4,6 Prozent Einsparungen kam (weitere Infos hier).
Was verstehen Sie unter den Gesundheitskiosken?
Es gibt inzwischen mehr als acht Gesundheitskioske in Deutschland, meistens gemeinsam finanziert von Städten und Krankenkassen und in gemeinnütziger Trägerschaft. Es geht dabei darum, Menschen niedrigschwellig in allen Fragen zur Gesundheit, Gesundheitsförderung und zu ihrer sozialen Situation zu beraten – und zwar in möglichst vielen verschiedenen Sprachen, ausgerichtet auf die Bevölkerungsstruktur vor Ort. Besonders wichtig ist aus unserer Sicht die Einbindung der Kioske in ein multisektorales Gesundheitsnetzwerk und der Anschluss an bereits bestehende Konzepte und Angebote des Sozialraums. Auf dieser Grundlage können die Kioske später zu einer regionalen populationsorientierten Versorgungslösung weiterentwickelt werden.
Wie werden diese finanziert?
Hierfür gibt es ganz aktuell einen Gesetzentwurf, das oben erwähnte GVSG, der intensiv diskutiert wird. Darin geht es um die Errichtung von bis zu 1.000 Gesundheitskiosken. Vorgesehen ist, dass die Krankenkassen 80 Prozent der Finanzierung übernehmen und die kommunalen Gebietskörperschaften 20 Prozent.
Wo stehen wir und was braucht es für die Zukunft?
Justin Rautenberg: Die große Herausforderung in Deutschland ist der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Noch ist er nur in einigen Regionen oder in bestimmten Einrichtungen zu spüren, aber diese Situation wird sich verschärfen. Insofern kommen wir nicht umhin, alle Möglichkeiten der Digitalisierung zu nutzen, die Arbeit über viele Berufe hinweg besser zu verteilen und die vorhandenen Arbeitskräfte effizienter einzusetzen. Darum geht es u. a. auch in der aktuellen Krankenhausreform: kleinere Krankenhäuser umzuwidmen, um genügend Arbeitskräfte für die größeren Standorte zu haben.
Ist Prävention wie sie in den IV-Projekten angestrebt wird, ein Lösungsansatz? Bietet die Integrierte Versorgung weitere Handlungsoptionen? Herr Dr. Hildebrandt, Sie haben das Schlusswort.
Helmut Hildebrandt: Eine der größten Aufgaben der Zukunft wird es sein, die Morbiditätslast effektiv zu verringern, d. h. erfolgreiche Primär-, Sekundär- und Tertiärprävention zu etablieren. Wir können es uns angesichts der demografischen Entwicklung nicht leisten, dass weiterhin so viele Menschen chronisch erkranken oder süchtig werden – aufgrund von fehlerhafter Ernährung, zu wenig Bewegung und zu hohem sozialen bzw. arbeitsbedingten Druck. Unsere Antwort darauf sind Gesundheitsregionen, in denen die regionalen Akteure in die Transformation der regionalen Versorgung, zielgerichtete Prävention und die Vermeidung von Krankheitsprogressionen investieren, und dann aus dem damit erreichten Gesundheitserfolg für die Bürger und die Krankenkassen refinanziert werden. Auch für dieses Konzept ist ein Gesetzentwurf in Arbeit – wir sind gespannt, was dabei herauskommt. Auf jeden Fall brauchen wir Intelligenz, Engagement und Fantasie, um gute und kostengünstige Lösungen zu entwickeln, die den Herausforderungen der Zukunft standhalten.